Eine Weihnachtsgeschichte

Digital StillCameraHeute bekommt ihr eine Weihnachtsgeschichte von meiner Qindie-Kollegin Cordula Broicher. Bücher waren schon von klein auf ihre Möglichkeit des Rückzugs in eigene Welten, aus denen sie sich auch heute noch manches Mal schwer lösen kann.

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Luis und der Weihnachtsbaum

Als Luis an diesem Morgen von Mama geweckt wurde, wollte er nicht aufstehen. Im Bett war es so schön warm und kuschelig und draußen war es noch stockdunkel. Nur die Straßenlaternen warfen ihr kühles Licht durch das bunte Transparentpapier der Sterne, die an seinem Fenster klebten. Luis zog sich die Decke über den Kopf und drehte sich noch einmal um.

Kurz darauf zupfte Mama an der Bettdecke. „Luis?“

Ganz dumpf drang ihre Stimme an sein Ohr. „Luis, nun komm, es ist schon nach sieben.“

„Ich bleibe heute zuhause.“

„Geht es dir nicht gut?“ Mama schob die Decke ein stückweit hinunter und legte ihm die Hand auf die Stirn. „Hast du Fieber?“

„Mein Hals kitzelt ganz komisch“, meinte Luis und hustete ein wenig.

„Ach, du Armer“, sagte Mama und setzte sich zu ihm ans Bett. „Wenn du krank bist, kannst du heute Nachmittag ja gar nicht mit in den Wald fahren, um den Tannenbaum auszusuchen.“

Oh, das hatte er ja ganz vergessen. Rasch strampelte er die Decke von den Beinen und sprang aus dem Bett. „Mir geht es schon wieder gut, Mama, ich muss sicher nur etwas trinken.“

„Da bin ich aber erleichtert.“ Mama stand auf und ging hinüber zur Tür. „Zieh dich rasch an und komm frühstücken. Papa und Mariele essen schon.

Eilig schlüpfte Luis in seine Sachen, fegte wie der Wind durchs Badezimmer und saß kurze Zeit später neben seiner Schwester am Frühstückstisch. Mama hatte die Kerzen auf dem Adventskranz angezündet und es gab roten Tee mit Zimt. Der schmeckte schon nach Weihnachten.

„Na, mein Großer“, sagte Papa, „freust du dich schon auf heute Nachmittag?“

„Klar!“ Luis griff nach einer Scheibe Brot und beschmierte sie mit Butter. „Darf ich auch mal die Axt halten?“

„Die Axt trage ich, du bist noch zu klein“, erklärte Mariele.

Luis knuffte sie in die Seite. „Gar nicht wahr! Ich kann schon gut mit Werkzeug umgehen.“

„Kein Streit am frühen Morgen“, mahnte Mama. „Mariele trägt die Axt hin und Luis trägt sie zurück zum Auto.“

„Darf ich denn auch mit der Axt schlagen?“ Luis strich sich dick Marmelade auf sein Butterbrot und biss ab.

„Nein, mit der Axt schlage nur ich“, antwortete Papa.

Mariele zog die Stirn in Falten „Vielleicht will Mama auch mal.“

Mama lachte. „Nein, danke. Ich werde uns heißen Kakao mitnehmen und mich ganz zufrieden an meinem Becher wärmen, während ich euch zuschaue.“

Kurze Zeit später klingelte Luis am Nachbarhaus. Paulina öffnete die Tür.

„Morgen“, nuschelte sie. Ihr Mund war noch mit Nutella verschmiert.

„Bist du noch nicht fertig?“

„Doch, gleich. Komm rein.“

Luis folgte ihr in den Flur und wartete darauf, dass Paulina aus dem Bad zurückkam. Bei Hansens schlang sich eine mit Strohsternen geschmückte Girlande rund um das Treppengeländer. Das sah hübsch aus.

„Denk an dein Pausenbrot!“, hörte er Frau Hansen aus der Küche rufen.

„Habe ich schon eingepackt!“ Paulina zog sich ihre Jacke an und setzte den Ranzen auf. „Tschüss, bis später!“

„Tschüss, meine Maus.“ Paulinas Mutter kam aus der Küche und gab ihr einen Kuss. „Tschüss, Luis, viel Spaß in der Schule.“

„Mal sehen“, antwortete Luis. So sicher war er sich nicht, dass er Spaß haben würde. „Aber danke“, fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein.

Gemeinsam mit Paulina ging er den Grasnelkenweg entlang. „Wir gehen heute Nachmittag in den Wald, einen Tannenbaum schlagen.“

„Ihr schlagt einen Baum? Warum?“

„Wir brauchen doch einen Tannenbaum.“

„Aber warum müsst ihr ihn schlagen? Was hat er euch getan?“

Luis schaute Paulina an und sah, dass sie grinste. „Mensch, Paulina, manchmal bist du echt komisch.“

„Ich wünschte mir, wir würden unseren Tannenbaum auch aus dem Wald holen“, seufzte Paulina. „Aber Papa und Mama haben dazu keine Lust. Deshalb kaufen wir unseren morgen in der Gärtnerei. Da ist es dann fast so ähnlich wie ihm Wald, weil dort so viele Tannenbäume stehen. Und es duftet. Wie Weihnachten.“

„Aber im Wald ist es schöner“, meinte Luis, „da hat man viel mehr Auswahl, sagt Papa. Und außerdem nimmt Mama Kakao und Kekse mit. Das ist wie Picknick.“

In der ersten Stunde hatten sie Musik und übten die Lieder für die Weihnachtsfeier. Luis würde sogar ein Gedicht aufsagen.

In der zweiten Stunde hatten sie Rechnen, da war Luis langweilig. Als er seine Aufgaben gelöst hatte, schaute er zum Fenster hinaus in den trüben Himmel. Und dann passierte es. Erst ein kleines, dann ein zweites, ein drittes größeres Flöckchen — und dann begann es zu schneien.

„Es schneit!“, rief Luis und sprang von seinem Stuhl. „Es schneit!“

Er lief hinüber zum Fenster und drückte sich die Nase platt. Paulina kam dazu und auch die anderen Kinder stürmten zum Fenster. Inzwischen fielen die Flocken dicht an dicht vom Himmel und schon bald bedeckte den schwarz geteerten Boden des Schulhofs ein weißes Kleid aus Schnee.

Da begann Frau Schneider zu singen und alle Kinder stimmten mit ein:

Schneeflöckchen, Weißröckchen,

wann kommst du geschneit?

Du wohnst in den Wolken,

dein Weg ist so weit.

So wurde es doch wieder ein schöner Schultag.

Als Papa endlich von der Arbeit kam, saß Luis gerade vor der Schnurkugel, die er für Oma Matilde bastelte. Er sprang auf. „Fahren wir los?“

„Ich denke, zuerst solltet ihr euch noch die Hände waschen und aufräumen“, lachte Papa. „Außerdem würde ich gerne noch eine Tasse Kaffee trinken.“

Luis wusch sich die Hände und packte die Bastelsachen in den Karton. Die Schnurkugel konnte liegenbleiben, die musste noch trocknen, ehe er den Ballon herausziehen konnte.

„Ich bin fertig!“, rief er und rannte in die Küche. „Fahren wir jetzt los?“

„Ja, du Quälgeist.“ Papa wuschelte ihm durch die Haare und stellte die leere Kaffeetasse in die Spüle.

Die Fahrt dauerte nicht lang. Luis kannte den Wald. Im Sommer fuhren sie dort mit ihren Räder hindurch, um zur Gaststätte am See zu kommen. Aber jetzt sah alles ganz anders aus. Die braunen Wege waren verschwunden. Stattdessen stapften sie durch knöchelhohen Schnee, der unter ihren Stiefeln knirschte. Schließlich erreichten sie das abgesperrte Gebiet, in dem die Bäume geschlagen werden durften.

„Ich will einen ganz großen Baum“, sagte Mariele und streckte ihren Arm nach oben aus.

„Und du?“, fragte Papa Luis.

„Mal sehen, welcher mir gefällt.“

Luis ging durch die Baumreihen. Sie waren nicht allein. Auch andere Leute prüften die Bäume, gingen drum herum und beratschlagten, für welchen sie sich entscheiden sollten.

„Wie groß darf er denn werden?“, fragte Papa und blieb neben einem riesigen Baum stehen.

Mama lachte. „Nun, in unser Wohnzimmer sollte er schon passen.“

„Der hier ist schön“, rief Mariele.

Luis schaute zu ihr hinüber. Ja, der Baum gefiel ihm auch recht gut. Aber so schnell wollte er noch nicht am Ziel sein. „Lasst uns erst noch weitersuchen“, meinte er.

Nachdem er ein paar Schritte weitergegangen war, kam er an einen Platz, an dem schon viele Bäume geschlagen worden waren. Nur ein einzelnes Bäumchen stand noch dort.

„Der gefällt mir“, sagte Luis. „Lasst uns diesen nehmen.“

Papa kam hinzu und ging um den Baum herum. „Das hat schon seinen Grund, warum dieser noch hier steht, Luis. Schau doch mal, der ist ja ganz krumm.“

„Außerdem hat er hier nur braune Nadeln.“ Mariele zeigte auf einen der unteren Äste.

„Er hat zu wenig Sonne bekommen“, erklärte Mama.

„Wahrscheinlich haben ihm die Bäume rundherum das Licht genommen.“

„Ich möchte diesen“, beharrte Luis auf seine Wahl.

„Aber der ist doch nicht schön“, erklärte Papa. „Der eignet sich nicht einmal für Brennholz.“

„Aber er steht hier ganz allein“, erklärte Luis. „Niemand will ihn haben. Er braucht doch auch eine Familie, um Weihnachten zu feiern.“

Mama legte ihm den Arm um die Schultern, zog die Stirn in Falten und betrachtete das Bäumchen ausgiebig.

„Du willst doch nicht tatsächlich dieses Bäumchen kaufen?“, fragte Papa Mama.

„Da könnte man sicher etwas draus machen“, antwortete sie.

„Genau, Papa.“ Luis verschränkte die Arme vor der Brust. „Als Mariele neulich meinte, dass sie keine Lust auf die blöden Aufgaben hat, hast du selber gesagt, es kommt immer drauf an, was man daraus macht.“

Papa grinste und ging noch einmal um die Bäumchen drum herum. „Was meinst du Mariele?“

„Schön ist er jedenfalls nicht.“

„Das ist wohl wahr“, meinte Mama. „Aber wenn Luis so viel daran liegt.“

„Von mir aus.“ Mariele gab Papa die Axt und nach ein paar Schlägen kippte das Bäumchen um.

„Juhu!“ Luis warf die Arme in die Luft und sprang hoch. Es war geschafft.

Wenige Tage später war Heiligabend. Papa hatte das Bäumchen schon an dem Tag, an dem sie es aus dem Wald geholt hatten, in einen Ständer gestellt und diesen mit Wasser gefüllt. So hatte es die letzten Tag auf der Terrasse gestanden. Luis hatte ihm einen Strohstern in die Spitze gesetzt, damit es schon ein wenig geschmückt war.

Während der Christmesse rutschte Luis aufgeregt hin und her und überlegte, wie sein Baum wohl aussehen würde. Aber er hatte so viele Ideen im Kopf, dass er zu keiner Lösung kam.

Nach dem Gottesdienst wünschten sie noch allen Freunden frohe Weihnachten und gingen endlich nach Hause. Im Flur zog er so schnell wie möglich Jacke und Schuhe aus. „Ich bin fertig!“

„Das ist schön“, sagte Mama und wuschelte ihm durchs Haar. „Ihr wartet hier, bis alles bereit ist.“

So blieb Luis mit Mariele im Flur zurück und wartete auf das Klingeln des Weihnachtsglöckchens. In seinem Bauch kribbelte es, als wären ganze Ameisenkolonien darin unterwegs.

„Zapple doch nicht so herum“, schalt Mariele.

„Ich bin aber so aufgeregt. Wann klingelt es denn endlich?“

Da, endlich, das Glöckchen erklang. Luis lief zur Wohnzimmertür und stieß sie auf. Dann blieb er stehen und starrte auf den Tannenbaum. Es war der schönste Baum, den er in seinem Leben gesehen hatte. Er stand auf einem kleinen Tischchen, behängt mit einer strahlenden Lichterkette. An allen Zweigen hingen dicke rote und goldene Kugeln, dazwischen die Sterne, die Mariele gebastelt und die grün-goldene Glitzerkette, die er in der Schule gemacht hatte. Der Ast ohne Nadeln war verschwunden. An dieser Stelle stand die Krippe, so dass es aussah, als würde das Bäumchen das Jesuskind beschützen.

Papa hatte Recht gehabt. Es kam immer nur darauf an, was man aus etwas macht. Luis lief zu seinen Eltern und umarmte sie ausgelassen.

„Frohe Weihnachten, mein Schatz“, sagten sie wie aus einem Mund.

„Fröhliche Weihnachten“, sagte Luis.

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