„Vermisst du die Arbeit nicht?“, fragte ich Melinda.
„Ich lebe hier gerne alleine mit dir.“ Meine Tochter legte einen weiteren geflickten Socken beiseite. „Und vergiss nicht, dass uns die Inquisition hier niemals finden wird.“
Ich lächelte sie an, um ihr zu zeigen, wie sehr sich sie liebte, doch insgeheim sehnte ich mich nach etwas mehr, als nur zu überleben. Mit einem Seufzer spann ich weiter.Der regelmäßige Rhythmus und Melindas Atemgeräusche entspannten mich, so dass die innere Unruhe nachließ. Die Ruhe unserer Abendroutine wurde erst unsanft unterbrochen, als etwas Schweres gegen das Fenster unserer kleinen Hütte donnerte. Da es draußen dunkel war, konnten wir nicht erkennen, was es war. Meine Finger hörten automatisch mit dem Spinnen auf und wir hielten beide die Luft an, fürchteten dasselbe. Aber kein Schrei war zu hören, keine Forke oder Fackel zu sehen. Etwas erleichtert, aber immer noch misstrauisch rief ich: „Wer ist da?“
„Schon-nnr üfung.“ Die Stimme klang, als würde jemand etwas im Mund halten und versuchen, darum herum zu sprechen. Melinda sah mich an, und ich sah Melinda an.
„Ich kenne jemanden, der so spricht“, flüsterte ich. „Aber die Stimme ist anders.“
Wer auch immer vor unserem Haus stand klopfte erneut gegen die dünne Scheibe, die den Wind von uns fern hielt. Wenn sie zerbrach würde der Winter seine eisigen Finger in unser Haus schicken, also stand ich auf, um zu öffnen. Vorher hielt ich aber am Herd und nahm das größte Messer, dass wir besaßen. Ich ließ es in dem Moment fallen, als die Tür aufschwang und den Blick auf einen etwa menschengroßen Drachen mit roten Schuppen freigab, dem ein Stoffbündel aus dem Maul hing. Als er Melinda hinter mir stehen sah, nahm er das Bündel in die Pranken und bewegte die Kiefer von einer Seite zur anderen, um die Muskeln zu lockern.
„Ich verstehe nicht, warum der Boss darauf besteht, dass wir sie ihm Maul transportieren sollen“, sagte er und reichte ihr das Bündel. „Sonderlieferung für dich. Die Neu Storch GmBH sendet ihre Glückwünsche. Ein Willkommensbonus ist der Lieferung beigefügt.“
Mit zitternden Fingern öffnete Melinda das Bündel.
„Es ist ein Junge“, sagte der Drache unnötigerweise. „Und Windeln sind auch dabei.“
Melindas Gesicht spiegelte den Schock, der mich hatte erstarren lassen. Ich musste mich mehrfach räuspern, bis ich endlich die Sprache wiederfand.
„Warum schickt uns Storch ein Baby? Wir haben keines bestellt.“
„Neue Regeln.“ Der Drache lächelte und zeigte dabei mehr Zähne als ich im Augenblick vertragen konnte. Ich schluckte, und er lächelte noch breiter. „Wir haben noch ein paar Restposten, die auf die alte Art transportiert werden müssen. Deine Tochter war eine jener Empfängerinnen, die Storch persönlich ausgewählt hat.“
„Restposten? Komm herein und erläutere das.“ Ich trat beiseite. Solange ich mich erinnern konnte war ich eine von Storchs Helferinnen gewesen, hatte das Handwerk der Hebamme von meiner Mutter gelernt und an meine Tochter weitergegeben. Dennoch, seit die Inquisition begonnen hatte, Hebammen als Hexen zu verbrennen, waren wir untergetaucht. Bis jetzt mit Erfolg.
Der Drache rollte sich auf dem Flickenteppich in der Nähe des Herds zusammen und genoss die Wärme des Feuers. Er ließ ein paar glückliche Rauchkringel aufsteigen, bevor er sprach.
„Storch hat viele seiner Mitarbeiter verloren, als die Inquisition beschloss, dass Auslieferungen durch Störche nicht existierten und dass jeder, der daran glaubte, abergläubisch und somit zu bestrafen sei. Danach fingen Leute an, auf Störche zu schießen. Vermutlich weil sie hungrig waren.“ Er starrte eine Weile in die Flammen, so dass ich das Spinnen wieder aufnahm. Er seufzte zufrieden. „Wie ich schon sagte hat Storch auf diese Art viele Mitarbeiter verloren, also entschloss er sich, den direkten Weg zu wählen, der nicht auf Storchtransporte angewiesen war. Ich hab ihm gehofen, das System zu installieren. Dafür war eine Menge Magie nötig, glaubt mir.“
„Direkt?“ Meine Gedanken rasten. „Storchfreie Auslieferung?“
„Na ja, die Samen werden bereits geerntet, wenn sie noch im Einzellstadium sind, und ein magischer Schlauch schickt sie auf direktem Weg in den Bauch der Mutter. Es ist ein Wunder. Wirklich.“ Er polierte seine Krallen und sah selbstzufrieden aus. „Und ich spielte eine große Rolle beim Entwickeln dieses Projekts, wenn ich mal so sagen darf.“
Wie konnte Storch Babies direkt zu den Müttern bringen? Noch dazu in ihre Bäuche, wenn ich das recht verstanden hatte. Meine Augen weiteten sich, als ich begriff, was das bedeutete.
„Wenn er das Paket in die Mutter hinein schickt, muss es irgendwann ja auch wieder heraus, oder?“
„Jup. Und genau darum lädt er dich zu einer Weiterbildung zum Thema ‚Geburt‘ ein. Das ist kurz für ‚Ganzheitlich Erleuchteter Binärer Uterus Radikal Transport‘, dem Namen der neuen Technik. Die Teilnehmerinnen des Kurses müssen das Wissen dann verbreiten.“
Mit einem Mal sah ich mein restliches Leben vor mir – stets unterwegs, um Frauen mit der ‚Geburt‘ zu helfen und Storchs neue Verteilungsmethode im Land zu verbreiten, so gut ich konnte, während ich stets auf der Hut vor der Inquisition sein musste. Ab und an würde ich Melinda besuchen, die hier bleiben musste, um sich um ihren Sohn zu kümmern. Schlagartig war das Leben wieder aufregend.
Hier sind die Links zu den anderen Geschichten dieses Bloghops (wie immer nur auf Englisch):
Pocket Heart by Juneta Key
Oh Baby! by J. Q. Rose
Reflected by Elizabeth McCleary
Veronica by Jessica Kruppa
Last Stop by Erica Damon
Jesse and Tyler by Bill Bush
The Poisoner of Time by Karen Lynn
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